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ZU DEN TELEFONZEICHNUNGEN VON FRANZ EGGENSCHWILER
von Hans Christoph von Tavel

Seit über 20 Jahren, eigentlich von Anbeginn der künstlerischen Arbeit Franz Eggenschwilers geht neben dem Erschaffen von Objektsammlungen, Objekten und technisch perfekten graphischen Folgen und Einzelblättern die Entstehung von Telefonzeichnungen einher: Beiläufige Kritzeleien, gedankenlose Zeichnungen ohne zweckdienlichen Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Gespräch, automatische, mechanische Bewegungen der Hand, die einen Stift, einen Kugel- oder Filzschreiber oder was sich gerade anbietet, hält und damit auf herumliegende Zettel zeichnet.

Von allen Definitionen der Kunst mögen heute die der Metapher der Schöpfung oder auch Schöpfung an sich am wenigsten umstritten sein.
Bei den Telefonzeichnungen Eggenschwilers handelt es sich nicht um die Sichtbarmachung einer gedanklichen Schöpfung, sondern um das zwar grundsätzlich gewollte, aber im Einzelnen absichtslose Entstehenlassen von Zeichen und Formen durch den Künstler.

Dies ist eine persönliche Konsequenz aus der für einen großen Teil der Kunst unseres Jahrhunderts lapidaren und programmatischen Feststellung Picassos: Ich suche nicht, ich finde. Picasso aber ist auf andere Weise fündig geworden als Eggenschwiler. Er hat wahrend der zeichnerischen oder malerischen Arbeit an bestimmten Themen auf Papier und Leinwand Entdeckungen gemacht. Eggenschwiler dagegen fallen sie sozusagen auf das Papier, während er irgendwelche Gespräche führt: Schöpferische Formfindung in Situationen künstlerischer Entspannung.

Wenn Eggenschwiler am Telefon zeichnet, befindet er sich in einem bestimmten
Zustand zwischen künstlerischer Aktivität und denkerischer Passivität. Er ist aktiv, indem er ein Stück Papier zur Hand nimmt und einen Stift ergreift, um damit die äußerliche Voraussetzung für die Entstehung einer Telefonzeichnung zu schaffen. Er ist passiv in dem Sinne als er seinen Gedankenapparat während des Zeichnens gleichsam auf einen andern - mehr oder weniger eng benachbarten - Kanal umschaltet, den des Gesprächs. Hirn und Hand sind nicht mehr zu einer rationell erfaßbaren Handlungseinheit verbunden. Die Hand hält sich für ein breiteres Spektrum von Impulsen bereit.

Viele Menschen machen Telefonzeichnungen oder Zeichnungen während Sitzungen, zur Entspannung, zur Ablenkung oder um sich zu amüsieren. Innerhalb der Arbeit dieser Menschen sind solche Zeichnungen Nebenprodukte, an denen der Freundeskreis seinen Spaß und der Psychiater sein Interesse findet. Eggenschwiler aber mißt seinen Telefonzeichnungen eine entscheidende künstlerische Bedeutung zu und dokumentiert dies dadurch, daß er Signatur und Datum anbringt. Diese Maßnahme ist die Umkehrung dessen, was Marcel Duchamp tat, als er banale Objekte, die Ready mades, als Kunstwerke bezeichnete und behandelte und damit Würde und Bedeutung des Kunstwerks ins Lächerliche zog; für Eggenschwiler dagegen birgt selbst die unscheinbarste Telefonzeichnung die Bedeutung und Keimkraft eines Kunstwerks.

Man könnte diese Zeichnungen deshalb am ehesten mit Objets trouvés vergleichen.
Die Telefonzeichnungen sind Dessins trouvés, die auf einer Ebene zwischen menschlicher Natur und menschlichem Formwillen gefunden werden. Diese Zwischenebene entzieht sich den Kategorien des freien und des gelenkten Zufalls, mit denen man die Kunstwerke aus Objets trouvés zu beschreiben versucht.

Aber wie die Objets trouvés so werden auch die Dessins trouvés zu Anregern von künstlerischen Objekten und graphischen Blättern Eggenschwilers. Andere Künstler des 20. Jahrhunderts haben andere
Zwischenebenen auszubeuten versucht, so etwa Henri Michaux in seinen Zeichnungen, die er unter Einwirkung von Meskalin geschaffen hat.

Der Begriff der Ausbeutung will nun freilich gar nicht zu Eggenschwiler passen. Seine Methoden der Aneignung von Formen und Materialien aus jenen Bereichen, die ihm zur Verfügung stehen, sind ein von Liebe und ehrfürchtigen Fragen und Ahnungen getragenes Sammeln. Seine Haltung gegenüber der Natur und den geistigen Kräften, durch die sie bewirkt und von denen sie erfüllt ist, kennzeichnet sich durch eine
stete Empfangsbereitschaft für alle Arten von Botschaften und Strahlungen. So ist auch der dem beabsichtigten Zweck entzogene Abfall für ihn eine Art Medium zurück zu den geistigen Potenzen.

Neben meiner konstruktiven Phase habe ich auch unentwegt als Spurenleser Abfälle der menschlichen Zivilisation und Kultur gesammelt, sagt er zu Karl Gerstner. Um sie zunächst photographisch umzusetzen. Und später in Objekten zu verwerten. Das gleiche Interesse dem äußerlich Niedrigen und Verachteten gegenüber und dasselbe Bestreben, die geistigen Kräfte darin sichtbar werden zu lassen und im Kunstwerk zu erhöhen, kennzeichnet Eggenschwilers Achtung vor der unscheinbaren Telefonzeichnung.

Mit dem Reizwort Skizze entlockte ihm Bernhard Hahnloser die folgenden Sätze: Delacroix hat als erster verlangt, daß sie als vollwertiges Kunstwerk anerkannt werde. Es gibt eine Kursivschrift, die ist persönlich - und eine Kapitalschrift, die ist Offzialschrift. Aber die unbewußte Telefonzeichnung hat so viel Bedeutung wie die Schrift die stolz mit feierlichem Chorgesang daherkommt. Der Autoritätsbegriff ist gesellschaftlich untergegangen, um so mehr fühlen wir uns animiert zu flüchtiger Formensprache. Man kann andererseits dürchaus simple Inhalte in vollendeter künstlerischer Aussage darbringen. Welches von beidem? Künstlerische Narrenfreiheit.

Diese Offenheit und dieses Ernstnehmen der flüchtigen Formensprache hat Eggenschwiler zu der Pflege der Telefonzeichnung als künstlerische Gattung geführt. Die Zeichnungen als selbständiges Kunstwerk oder gar als Paradestück künstlerischer Virtuosität fehlt in seinem Oeuvre. Auch die verhältnismäßig wenigen Zeichnungen, die nicht als Telefonzeichnungen entstanden sind (etwa mit Zeichnungen versehene Widmungen in Katalogen u. ä.) entsprechen in ihrem Stil der Telefonzeichnung. Lediglich der gezielte Inhalt in Bezug auf den Empfänger oder auf den Inhalt des Buches unterscheidet diese Zeichnungen von den anderen. Die formale Erhöhung der Zeichnung und deren Umsetzung ins große Format geschieht durch Mittel der Druckgraphik. Erst dadurch erhält die Zeichnung im Schaffen Eggenschwilers ihren Offizialrang.

Jede Betrachtung von Zeichnungen Eggenschwilers ist ein Blick hinter die Kulissen. Diese Zone hinter den Kulissen befindet sich zwischen dem Bühnenraum der künstlerischen Reflexion und dem Mechanismus der vom Auge nur flüchtig gelenkten automatischen Formwerdung.

Es scheint, daß ein einmal gezogener Strich oder ein ganz einfach gezogenes Strichgefüge auf dem leeren Papierstück den folgenden zeichnerischen Vorgang und damit die Struktur des Endprodukts weitgehend determiniert. Entsprechende Gesetzmäßigkeiten ließen sich schon in dem 1979 erschienenen Band Prelüren erkennen. Der hier vorliegende Band vereinigt indessen die größte bisher publizierte Sammlung von Zeichnungen Eggenschwilers.

Ein äußerliches, aber deshalb nicht minder ernst zunehmendes primäres Merkmal ist das Format. Die Zeichnungen befinden sich ausnahmslos auf kleinen Papieren und Papierschnitzeln.
Dies steht im diametralen Gegensatz zu einer anderen Bewegung automatischer Formfindung in der Malerei des 20. Jahrhunderts: Action painting. Eggenschwiler ist nicht der Mann der ausfahrenden Geste und der zeichnerischen Bravour, noch der Hingabe an den materialbedingten Zufall.

Von Anfang an zielt der zeichnerische Vorgang auf kleine geschlossene Formen oder streng strukturierte Muster ab. Dieser Wesenszug ist eine Zelle zu den großformatigen Kompositionen, den Riesenobjekten, besonders den Kästen, in denen in sich geschlossene und eingehegte Organismen miteinander verbunden und übereinander geschichtet werden. Innerhalb der zellenartigen Kleinheit der Telefonzeichnungen herrscht das formale Ordnungsprinzip, das auch die andern Werke beherrscht und kennzeichnet: die Parallele.

Damit ist nicht nur die Parallele im mathematischen Sinn gemeint, sondern auch die Parallele im übertragenen Sinn: Entsprechung, Ähnlichkeit, Symmetrie.

Dieser Befund an den Telefonzeichnungen macht auch verständlich, weshalb Eggenschwiler während einiger Zeit am Beginn der 1960er Jahre rein geometrische Kompositionen schuf, im Bestreben, die Struktur aus allen Schlacken und Unebenheiten des Lebendigen herauszuschälen und in ihrer Reinheit sichtbar zu machen.

Immer wieder entwickelt die Hand während dem Gespräch am Telefon aus einer Linie oder einer Form eine Parallele, eine Symmetrie, eine Wiederholung oder eine Variante.
Der fast zögernde Strich läßt erkennen, daß selbst bei diesem nur teilweise kontrollierten zeichnerischen Vorgang keinem Gefühlsausbruch, keiner Aufwallung und keiner Ekstase stattgegeben wird.

Die Aufzeichnung nach dem unsichtbaren Idealbild wird sorgsam durchgeführt, oft mit der Andeutung eines imaginären Bildvierecks zusätzlich im Rahmen gehalten. Diesem generellen Charakter entspricht auch der Rhythmus der Formenabfolge im Bildraum: quirlend, tänzerisch, schwebend, feingliedrige Regelmäßigkeit eines engmaschigen Musters, zierliche Monumentalität. Gravitätisches Einherschreiten, massige Präsenz, perspektivische Fluchten sind ironisiert oder von gegenteiligen Strukturen durchkreuzt. Meistens ist die Linie in ihrer Reinheit bewahrt.

Innerhalb dieser grundsätzlichen Eigenschaften sind die Telefonzeichnungen Eggenschwielers
von größter Vielfalt. Jede ist neu und bedeutet das Festhalten eines einmaligen, unwiederholbaren Augenblicks auf dem Papier.

Dabei lassen sich gewisse Gruppen bilden, die sich allerdings teilweise auch überlagern: Ornamentales, Verschachtelungen, Formes découpées, innerhalb des Gegenständlich-Assoziativen Antropomorphes, Erotisches, Landschaftliches, Architektonisches. Solche Gruppen lassen sich auch in den Objekten und selbstverständlich in der Graphik bilden.

Am schwierigsten ist
die Frage nach der Entwicklung im Laufe der Zeit zu beantworten. Es sind in solcher Tiefe des Lebensstroms dieses Mannes zwischen 25 und 50 Jahren nur Nuancen, die sich verändern, während an der Oberfläche - im körperlichen Aussehen, in den Lebensumständen, in den künstlerischen Realisierungsmöglichkeiten - scheinbar grundlegende Umwälzungen festzustellen sind. Die früheren Zeichnungen sind etwas weniger klar und eindeutig formuliert, die späteren zeugen von wachsendem Vertrauen in das Medium der Telefonzeichnung, deren Bedeutung erst in den 1970er Jahren von einem breiteren Kreis wahrgenommen wird.

Wie behutsam Franz Eggenschwiler mit den Mächten umgeht, die sein Schaffen aus Sphären, die dem unmittelbaren Bewußtsein entzogen sind, lenken, geht daraus hervor, daß er auch heute noch keine Anstalten trifft, diese Quelle der Inspiration auszubauen und systematisch zu erschließen. Er begnügt sich nach wie vor mit der bescheidenen Rolle des Empfängers mit zufällig vorhandenen Papierabfällen, Notizzetteln und Schnipseln und irgendwelchen Schreibutensilien. Die Geister vermitteln ihre Botschaft nur in diesem lebendigen Wirkungskreis des Zufalls und nicht im Labor des modernen Menschen.

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