Texte aus dem Jahr 2000
 


Text von Gerhard Kolberg zu Gauchheil (Projekt Nr. 14)
Wand - und Deckenbemalung in der der Psychatrie Mainz, März 2000.
Fortgesetzt im Kunstbunker Nürnberg mit
Heile, heile (Projekt Nr. 15).



Die Linie gibt dem Zeichner Kraft, damit er eine Zeichnung schafft.
Diesem Reim, frei nach Wilhelm Busch, könnte sofort die Frage folgen, was denn den Patienten der Klinik Energie gibt, damit die Basis für ihre wirksame Behandlung gegeben ist?

Zu einem wesentlichen Anteil ist es die Nahrung! Die Speisung des Körpers mit Lebensenergie ist ernährungswissenschaftlich gestaltet und individuell auf den Bedarf des Patienten ausgerichtet. Der Zeichner Hannes Kater beschäftigt sich seit geraumer Zeit in seinen linearen Kunstwerken mit der
Verflochtenheit der Energiekreisläufe und Versorgung, den Steuerungs- und Regelungs-vorgängen, also der Kybernetik, und erkannte diesen elementaren Aspekt im Klinikalltag sofort.


Hannes Kater: Zeichnung auf Laufzettel der Pychatrie Mainz – Von Chaos und Ordnung der Seele II, Mainz 2000, 283x136 Pixel

Klingel mit Kamera am Eingang zu der geschlossenen Station 2


Er, der vierzehn Tage mit den Patienten einer geschlossenen Station zusammenlebte, ließ in seine Zeichenkunst der linaren Darstellung von Systemen, auch seine Erlebnisse mit ihnen einfließen. Aufmerksamkeit erregten in Hannes Kater die vorgedruckten Laufzettel bzw. die OrgaCard's der medizinisch kontrollierten Essensplanung. Sie fragen nach Datum, Station und Patienten (hier sind Maler oder Künstler angegeben), Art des Frühstücks, Mittagessens und Abendessens.

Sie entscheiden, ob ein Standard-Frühstück angemessen oder eine Vollkost sinnvoll ist. Die Nahrungsaufnahme und die Wege der Verdauung hat der Künstler in seinem typischen Zeichenstil, einer
Symbiose aus Organik und Formelhaftigkeit, unmittelbar auf solche Formulare eingetragen, zum Teil unter gestalterischer Einbeziehung des Vorgedruckten.


Hannes Kater: Zeichnung auf Laufzettel der Pychatrie Mainz – Von Chaos und Ordnung der Seele II, Mainz 2000, 283x136 Pixel
Abb. 2 Frühstück Maler – überzeichneter Laufzettel


Hannes Kater Zeichnung Laufzettel
Abb. 3 Mittagessen Künstler – überzeichneter Laufzettel

So nimmt das "Vollkost-Frühstück" (siehe Abb. 2) ein von vegetabilen Formen und fließenden Energielinien umrankter Kopf mit geöffnetem Munde auf. Der Kopf ist in lehrbuchartigem Querschnitt gezeichnet und reduziert die Gehirnfunktion auf zwei elektrische Pole.

Das "Mittagessen"- Formular (siehe Abb. 3) zeigt, aus schwarzen und blauen Lineamenten und Rasterungen, energiegeladenen Wellenbändern und kurvigen Pfeilen komponiert, das Schaubild eines geregelten organischen Betriebssystems. Auch das Abendessen hat Hannes Kater in ähnlicher Art und Weise interpretiert und zeichnerisch kommentiert. In einem Geflecht von Körperfragmenten, Köpfen und verteilenden roten Pfeilen demonstriert er uns Wege und Nutzung der eingespeisten Nahrung. Gewissermaßen hat der Künstler
mit kreativer und zugleich distanzierender Ironie das chemische und physisikalische Funktionssystem des Patienten "porträtiert", und das, was er auf den Essenskarten mit wenigen Linien artikulierte, ausführlicher und größer auf Wände, Decke, und Glastür eines Klinikraumes gemalt bzw. gezeichnet.

Einige vorgezeichnete Motive übertrug er mit dem Projektor auf die Wand, darunter auch ein solcherart vergrößertes "Standard-Frühstück"-Formular. Unter einfühlsamer gestalterischer Einbindung der realen Fenster, Türen, Deckenbeleuchtung und Feuerschläuche, malte Hannes Kater eine formelhafte, grafisch exakte, aber dynamische Linienkomposition aus blauen und roten Figuren, Köpfen, Gefäßen, Zeichen, Formen, Pfeilen, Wellenbändern, Buchstaben und Zahlen.
Hannes Kater: Zeichnung auf Laufzettel der Pychatrie Mainz – Von Chaos und Ordnung der Seele II, Mainz 2000, 283x136 Pixel

      Abb. 4 Ausschnitt aus der Wandzeichnung mit dem       eingeschriebenen Wort "Dichtungs-Klemmmaterial"

Über das ästhetische Erleben dieses aspektreich formulierten und raumumspannenden Wandbildes hinaus, lädt uns der Wunsch, das gleichsam organisch gewachsene Gesamtbild in seinen beziehungsvollen Details zu entziffern, zum Verweilen ein.

Vasenartigen, organisch deutbaren Gefaßen als Sinnbild der Versorgung, sowie Kartuschen mit Zeichen der Energie entspringen zuordnende Pfeilbögen. Leere Gesichtsflächen sind als Metapher rasch vergehender Zeit und Orientierungssuche mit mehreren Richtungspfeilen zugleich ausgefüllt. Wohin?- so lautet die Frage. Über allem steht in wirrer, also noch in Ordnung zu bringender Konstellation das GLUECK geschrieben.
Auf die Chemie und Physik des Körpers, auf die Süchte und Sehnsüchte einiger Patienten weisen organische Kürzel und Texte wie "
Schichtspeck" hin. Auch die Figur eines sitzenden, von "Gefäßen" durchzogenen Rauchers, wegen seines nervösen Zitterns in der knappen Sprache einiger Patienten "Wackel wackel" charakterisiert, basiert auf einer realen Beobachtung des Künstlers.

Ebenso hat Hannes Kater in sein grafisches Systembild das wiederholt gemurmelte Wort einer Patientin, "
Dichtungs-Klemmmaterial" (siehe Abb. 4), einbezogen, das in seiner Surrealität umso expressiver an die allgemeine Angeschlossenheit des modernen Menschen an Geräte, Instrumentarien, Schaltkreise und Verwaltungsapparate erinnert. Der Künstler schrieb es formelhaft und mehrdeutig in sein Gesamtbild hinein: Leben dahin – hier rein – und hier rein.


Gauchheil. Wand - und Deckenbemalung vor den Stationen 1 und 2 (geschlossene Stationen) der Psychatrischen Klinik der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz anläßlich des Symposiums "Von Chaos und Ordnung der Seele II" im März 2000.

Zu dem Projekt, an dem 10 Künstler beteiligt waren, erschien ein Katalog, in dem auch dieser Text veröffentlicht wurde.


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